Mehr als nur ein kleiner Fettstift
Vom „Zauberstab des Eros“ zum modernen Lippenstift
Fast jede hat ihn, benutzt ihn täglich und das in ganz vielen Farben. Als kleine Mädchen haben wir ihn von der Mama stibitzt. Heute ist er in unserer Handtasche, im Badezimmer und im Handschuhfach: Der Lippenstift. Der unverzichtbare Begleiter, Unterstreicher unseres weiblichen Aussehens. Wie ist er eigentlich zu dem geworden, was er heute ist?
Als das Färben der Lippen noch Sünde war…
Früher, und damit meine ich vielleicht mal so 120 bis 150 Jahre früher, also so zwischen 1860 und 1890 galt das Schminken der Lippen als unschicklich. Sittsame Frauenzimmer machten das nicht. Rote Lippen waren ein Zeichen für Damen, wenn man sie so nannte, vom Gewerbe. Vergessen waren die Ausschweifungen des Barocks und der Renaissance, es herrschte jetzt das kühl kalkulierende Bürgertum. Kaiser wankten, Staaten brachen zusammen und neue Unionen wurden geschmiedet. Seit etwa 100 Jahren wurde die Dampfmaschine industriell genutzt, der Zugverkehr begann seinen Siegeszug und überall schmiedeten Ingenieure im wahrsten Sinne des Wortes an neuen Erfindungen und Bauwerken: der Eiffelturm oder die Brooklyn Bridge. Man erfand sogar die Weltausstellung, um sich gegenseitig zu zeigen, wie toll man war. Und dann passierte dort etwas unerhörtes: Auf der Weltausstellung in Amsterdam 1883 wurde ein kleiner unscheinbarer Stift vorgestellt. Er sah nicht schön aus, eher so, wie heutige Wachskreiden aus unserem Vorschulmalkasten. Aber er hatte einen tollen Namen: „Zauberstab des Eros“ und er sollte dazu dienen, die Lippen rot zu färben, Frauenlippen natürlich und das ohne Malheurs. Das muss man sich mal vorstellen! Zu einer Zeit, die mit prüde wahrscheinlich noch fortschrittlich zu nennen ist. Die Lippen von Frauenzimmern!
Der Siegeszug des Lippenstiftes begann später
Dass dieser Zauberstab nun nicht gleich der Kassenschlager wurde, lag nicht nur an der prüden Einstellung seiner Zeitgenossen. Auch die Formulierung war noch weit von dem entfernt, was wir heute kennen. Grob gesagt war es: Bienenwachs, Ricinusöl, Hirschtalg und Pigmente. Dieses Gemenge, das in Papier gewickelt war, hätte sich in jeder Handtasche in einen färbenden Klumpen Fett verwandelt. Die Resonanz war also gering. Allerdings gab es Frauen, Schauspielerinnen, die dieses Produkt auf der Bühne verwendeten. Allen voran Sarah Bernardt, die nicht nur mehrere Ehen hinter sich hatte, sondern angeblich auch eine lange Reihe Geliebter und Verehrer. Sie war nun wirklich nicht der Prototyp des angepassten Weibchens. So langsam begannen sich also mehr Frauen für diesen Zauberstab zu interessieren, richtig viele wurden es aber erst, nachdem er eine neue Verpackung bekam.
Die richtige Verpackung – ein wesentlicher Bestandteil des Produkterfolges
Der Stift wurde in eine Hülse gesteckt; man munkelte es seien Patronenhülsen. Vielleicht war das aber auch nur ein Gerücht, um den Frauen die Gefährlichkeit dieses Produktes vor Augen zu führen. Denn gefährlich wurde es wirklich – für die Männer – als sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Suffragettenbewegung formierte, meist gebildete Frauen, die es nicht länger hinnehmen wollten, dass ihnen das Wahlrecht verwehrt wurde. Zum Ausdruck ihrer Unabhängigkeit und aus Protest rauchten sie und trugen Lippenstift. Nach dem Ersten Weltkrieg erhielt die Emanzipation der Frauen einen ungeplanten Schub, denn viele hatten den Familienernährer im Krieg verloren und mussten arbeiten. Damit hatten sie aber auch Geld und kauften sich: einen Lippenstift. Aufgrund seines Preises war es zwar nur für wenige zugänglich, viele aber träumten von ihm, wurde er doch von den Filmstars verwendet. Während des Zweiten Weltkrieges zeigte sich dann der unterschiedliche Umgang der Nationen mit dem Schminken. Während in Deutschland die Nationalsozialisten bestimmten, dass eine deutsche Frau sich nicht zu schminken hätte, hatten Amerikaner und Briten erkannt, wie sehr der Lippenstift das Selbstbewusstsein der Frauen stärkt. Besonders in Zeiten, in denen die Männer an der Front waren.
Der moderne Lippenstift stammt aus der Modewelt
Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Lippenstift zwar zunächst noch im (überwiegend amerikanischen) Film zu Hause, wurde aber mit der Weiterentwicklung der Lippenstifthülse mit einem Drehmechanismus und des Wiedererstarken der Mode überwiegend aus Frankreich inspiriert. Es wurden mehr Farben, es kamen die Saisonfarben dazu und immer mehr Varianten des Stiftes wurden entwickelt. Heute gibt es eine Vielzahl von Lippen(stift)produkten: den klassischen Stift, das Gloss, das Fluid, den Konturenstift – pflegend oder lang anhaltend oder alles zusammen. Die Formeln sind schon lange nicht mehr zu vergleichen mit der Ursprungsversion, moderne Rohstoffe haben ihren Einzug gehalten, ebenso sind Wirkstoffe und Lichtschutzfilter aus heutigen Formeln nicht mehr wegzudenken. Der Stift schmilzt nicht in der Handtasche und vielleicht auch nicht im Handschuhfach und lässt sich auch im Winter gut auftragen.
Heute ist das Schminken der Lippen auch keine Sünde mehr, auch nicht in der Öffentlichkeit. Aber was wären „Sünderinnen“ ohne Lippenstift? Gefährlich ist er noch immer – für Männer, die mit Lippenstiftspuren an Kragen oder Wange heimkommen….
Foto: ©istockphoto.com/iconogenic
Autor dieses Artikels:
Dr. Ghita Lanzendörfer-Yu ist promovierte Chemikerin und Expertin auf dem Gebiet der Entwicklung und Produktion von Kosmetika. Sie bringt mehr als 16 Jahre Erfahrung in der kosmetischen Industrie mit sowie vier Jahre freiberufliche Erfahrung in Shanghai, China.
Urheberrecht: Dr. Ghita Lanzendörfer-Yu. Verwendung des Textes nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors.
Dieser Artikel wurde verfasst am 20. Dezember 2011
von Ghita_Yu in der Kategorie Geheimnis Kosmetik
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5 Antworten zu “Vom „Zauberstab des Eros“ zum modernen Lippenstift”
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starling
22. Dezember 2011 um 09:30
Einfach wunderschön geschrieben. Toll auf den Punkt gebracht und dabei nicht in die trockene Monotonie eines stumpfsinnigen Vortrages gefallen.
Gefällt mir sehr gut. Vielen Dank!
Rea
23. Dezember 2011 um 11:45
Kann starling nur zustimmen. Finde den Text extrem gut! Danke für die interessanten Infos. 🙂
Jessi
28. Dezember 2011 um 09:48
jetzt weiß auch jeder, warum es „Hülse“ heißt =) richtig toller Text !
framboise
07. Januar 2012 um 08:33
Mensch, das hat Spaß gemacht es zu lesen, schöner Bericht :).
Trivia
25. Januar 2012 um 11:57
Toller Artikel, gefällt mir sehr gut. Ein interessantes Thema, spannend verpackt. Thumbs up! 😀